Vier Ebenen einer Erfahrung
Das Wort Mercosur ruft gleichzeitig den Gedanken an eine regionale Realität,
eine strategische Idee, einen formalen Prozess mit seinen Mechanismen
sowie ein Bild hervor.
Die regionale Realität
Als regionale Realität hat der Mercosur viele Dimensionen. Er
stellt ein internationales Subsystem dar, das die Politik, die Wirtschaft
und die Kultur umfasst. Seinen Ausdruck findet dieses System hierbei in
Konzepten und Verhaltensweisen der Regierung, der Unternehmerschaft und
der Zivilgesellschaft, in Handels- und Investitionsflüssen sowie
in auf Interaktion beruhenden Netzwerken, die viele Ebenen des gesellschaftlichen
Lebens bestimmen. Es prägt einen geographischen Raum, der sich auf
ganz Südamerika erstreckt. In seinem eigentlichen Kern schaut der
Cono Sur auf eine Geschichte der Gemeinsamkeiten, selbst der gemeinsamen
Konflikte, deren eigentliche Wurzel auf der Iberischen Halbinsel zu suchen
ist.
Die strategische Idee
Als strategische Idee, die ihre politische Konkretion unter den Präsidenten
Alfonsm und Sarney erfuhr und die anschließend von den Gründern
und Fortführern des Mercosur aufgegriffen wurde, bedeutet eben dieser
Mercosur das Bestreben, der Logik der Integration den Vorzug vor der Logik
der Zersplitterung zu geben und somit einen gemeinsamen Raum der Stabilität
und der Demokratie zu schaffen, dessen Träger ihre Ressourcen und
Märkte teilen und die gemeinsam auf internationaler Bühne konkurrieren
und Handel treiben. Dies ist keineswegs eine abstrakte Idee. Sie hat vielmehr
konkrete Motive und Ausdrucksformen, die in ihrer Intensität und
der Frage der zu setzenden Prioritäten unter den jeweils verschiedenen
Umständen und bei den einzelnen Partnern durchaus nicht gleich sein
müssen. Selbst innerhalb eines Landes - seiner gesellschaftlichen
Gruppen, Sektoren und Regionen - kann die Idee der Integration die Antwort
auf unterschiedliche und nicht notwendigerweise miteinander in Einklang
zu bringende Beweggründe sein.
Zum Zeitpunkt ihres Aufkommens im Jahre 1986 stand die strategische Idee
in engem Zusammenhang mit der Notwendigkeit, den Wiederaufbau der Demokratie
zu fördern. Später kamen andere Zielsetzungen hinzu, die der
gemeinsamen Arbeit Impulse verliehen und die im Zusammenhang mit den sich
in den jeweiligen Ländern abspielenden Prozessen der Produktionsumwandlung
und der Handelsöffnung sowie mit den die gesamte Hemisphäre
umspannenden Verhandlungen standen. In einigen Fällen mag die Notwendigkeit
vorrangig gewesen sein, die Verhandlungsmöglichkeiten auf dem Gebiet
des Handels, beispielsweise mit den USA, zu erweitern. In anderen Fällen
mag es dagegen in erster Linie darum gegangen sein, den Zugang zu einem
erweiterten Markt sicherzustellen, um so die Produktionsumwandlung durch
eine Erhöhung der Anziehungskraft für Investitionen zu stützen,
was wiederum eine Steigerung des Wohlstands der Bevölkerung nach
sich ziehen würde. Dies sind keine sich ausschließenden Zielsetzungen.
Im Gegenteil, die verschiedenen Partnerländer wissen, dass derartige
Ziele vor dem Hintergrund ihrer engen Beziehung ein Gleichgewicht der
jeweiligen Nationalinteressen schaffen, das es erlaubt, eine solide Partnerschaft
untereinander aufzubauen.
Jedoch zeigt die Erfahrung, dass die Idee der Integration, wenn sie auf
Dauer tragfähig sein will, in ihrer strategischen; Dimension die
Schaffung eines regionalen Umfeldes bedeuten muss, das das Erreichen prioritärer
nationaler Zielsetzungen noch mehr begünstigt. Somit ist sie keine
aus einer hypothetischen supranationalen Rationalität erwachsende
eines jeden der Partnerländer. So gelangt man also von der nationalen
Idee kommend zur regionalen, und nicht umgekehrt.
Aus der tiefsten kulturellen Wurzel heraus, d.h. aus der Notwendigkeit
heraus, die nationale Identität angesichts der durch die Globalisierung
freigesetzten Zentrifugalkräfte zu betonen und zu behaupten, entspringt
die Strategie eines gemeinsamen Arbeitens, eines Arbeitens in systematischer
Form und mit dauerhafter Perspektive. Die strategische Idee bringt nicht
notwendigerweise ein unumkehrbares Phänomen hervor. Sollte dies doch
der Fall sein, so wird man es erst im Laufe der Zeit wissen. Aber ihr
Wesensmerkmal, also das, was diese Strategie zu einem Phänomen macht,
das sich beispielsweise von dem Phänomen gutnachbarschaftlicher Beziehungen
zwischen aneinander grenzenden Nationen unterscheidet, ist das, was ein
Streben nach Unumkehrbarkeit in sich birgt. Von daher hat der die Partnerschaft
bestätigende Pakt - in diesem Fall der Vertrag von Asunciön
- permanenten Charakter. Dieser öffnet übrigens keinen geradlinigen
Weg, ganz im Gegenteil: Wie die europäische Erfahrung zeigt, gab
sich dieser Weg als ein vielfach gewundener zu erkennen, der sogar von
Krisen und gelegentlichen Rückschlägen keineswegs frei war.
Der Irrtum bestand oftmals darin, die Idee der Integration als eine Art
beleuchteter Autobahn in Richtung Wohlstand und grenzenlosen Fortschritt
zu verkaufen!
Der formale Prozess und seine Mechanismen
Als formaler Prozess mit seinen Mechanismen bedeutet der Mercosur
die Entwicklung von Mechanismen und Zeitplänen zur gemeinsamen Gestaltung
von Märkten und Ressourcen, zunächst im Rahmen einer Zollunion
und dann im Rahmen eines gemeinsamen Marktes. Ziel ist es hierbei, Kapazitäten
für die internationalen Handelsgespräche zusammenzuziehen, eine
dynamische Konzertierung der Nationalinteressen zu erreichen sowie gemeinsame
Prinzipien, Kriterien und Spielregeln - formale, informale und stillschweigend
mit einbezogene - festzusetzen, die wiederum dazu dienen sollen, die Vorgehensbestehen
in einer Vielzahl von Signalen an Bürger, Investoren und Drittländer,
die zu erkennen geben, welche Ziele verfolgt werden sollen, innerhalb
welcher Fristen dies geschehen soll und welche Wege zur Verwirklichung
der gemeinsamen Ziele einzuschlagen sind. Im Verlaufe der Entwicklungsgeschichte
des Mercosur wurde diese Art von Signalen, die Mechanismen und Spielregeln
zu erkennen geben, häufig aus dem Blick verloren.
Sie sind weder Mechanismen noch Spielregeln - und könnten dies auch
nicht sein -, die nur im Bereich des kurzfristigen Handels ihre Geltung
haben. Für diesen Zweck war es kaum erforderlich, ein solch komplexes
und ambitiöses Gebilde wie den Mercosur zu schaffen. Im Gegenteil,
seine Legitimität wurzelt in dem langfristigen, ausdrücklich
im Sinne der Partnerschaft formulierten Ziel der Entwicklung eines gemeinsamen
Marktes - so wie er im Vertrag selbst definiert worden ist -, der auf
dem Prinzip der Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten der Vertragspartner
beruht. Daher können dessen Ergebnisse auch nicht nur in Welthandels-und
Konjunkturbilanzen gemessen werden. Um eine Richtung zu haben, die zu
einer Art Vermittlungsdiplomatie führen könnte, existieren Mechanismen
und Spielregeln - oder sollten existieren -, die tatsächliche Auswirkungen
auf Investitionsentscheidungen und Strategien sowohl einheimischer als
auch ausländischer Unternehmer im Hinblick auf den erweiterten Raum
oder auch auf das Verhandlungsverhalten von Drittländern haben könnten.
Qualität und Effizienz dieser Mechanismen und Spielregeln hängen
in hohem Maße von dem Grad an Vorhersehbarkeit ab, der den Investoren
geboten wird, aber auch von den Zukunftsperspektiven, die den Bürgern
eröffnet werden. Deren hauptsächliche Ergebnisse müssen
dann an den Auswirkungen auf die in jedem der Mitgliedsländer getätigten
Investitionen gemessen werden, die wiederum eine Folge der verbürgten
Garantie eines unbeschränkten Zugangs zum integrierten Markt ist,
aber auch der gewährten präferenziellen Behandlung von aus Drittländern
stammenden Gütern und Dienstleistungen.
Je prekärer die Spielregeln sind, umso negativer werden sie sich
auf das Investitionsverhalten gegenüber jenen Partnerländern
auswirken, die über Märkte mit relativ geringer Dimension verfügen.
In dem Maße, in dem ein Investor in dem erweiterten Wirtschaftsraum
zu operieren plant, wird seine Schlüsselfrage stets die sein, ob
er für seine Güter und eventuell auch für seine Dienstleistungen
tatsächlich den gesicherten unbeschränkten Zugang zu den 200
Millionen Verbrauchern hat - und in diesem Falle, wer ihm diesen Zugang
garantiert (Dimension des Freihandels) - aber auch die nach dem konkreten
Unterschied, der sich aus der Frage ergibt, ob er seine Operationen inner-
oder außerhalb des erweiterten Wirtschaftsraumes durchführt
(Dimension der Zollunion und des gemeinsamen Marktes). Das Verhalten der
Investoren, und somit auch die Wirksamkeit des Integrationsprozesses für
ein jedes der Partnerländer werden in hohem Maße von der Qualität
und Tragfähigkeit der tatsächlichen Argumente, die eine Anwort
auf diese Fragen gestatten, abhängen. Hier liegt in letzter Instanz
der Unterschied zwischen einem "regelorientierten" (rule-ori-ented)
Prozess im Hinblick auf eine Alternative, die die Wirklichkeit selbst
präsentiert, sowie einem machtorientierten (power-oriented) Prozess,
in dem die Regeln der einseitigen Ermessensfreiheit eines jeden Partnerlandes
im Hinblick auf dessen tatsächliche Ausstattung mit relativen Machtmitteln
unterworfen sind.
Das Bild
Als Bild ist der Mercosur das Ergebnis seiner Wahrnehmung durch Bürger,
Investoren und Drittländer. Gemeint ist hiermit der Empfang der von
den Regierungen im Rahmen des Prozesses und mittels der eigenen Mechanismen
und Spielregeln ausgesandten Signale durch die genannten Hauptadressaten.
Der Mercosur stellt die Umsetzung dieses Empfangs in konkrete Erwartungen
und Verhaltensweisen dar. Je schwächer, ungenauer und flüchtiger
diese Signale sind oder je schlechter ihre Qualität ist, umso weniger
Einfluss haben sie auf ihre Adressaten, denn schließlich wirken
sie sich auf die Effizienz bzw. auf die erhofften Ergebnisse aus. Ganz
offensichtlich ist dies der Fall bei den In-vestitionen, die auf den erweiterten Markt abzielen.
Das Bild kann daher nicht einfach aus der rhetorischen Erklärung,
der Rede, entstehen. In dem Maße, in dem es sich unter den gegebenen
Machtverhältnissen als stabil erweist, stellt es im Übrigen
ein wesentliches Element in der Artikulation der Regierungsabsichten dar.
Jedoch der kritische Blick besonders der Investoren sowie der Drittländer,
mit denen man in Verhandlungen einzusteigen wünscht, wird die Qualität
der gefundenen Kompromisse, ihre Solidität und Einklagbarkeit, aber
auch ihre Fähigkeit, sich in der Wirklichkeit zu behaupten, ihre
Projektionskraft und ihre Dauerhaftigkeit einer sehr genauen Prüfung
unterziehen. Wenn es keine Abstimmung unter den verschiedenen Mechanismen
- beispielsweise die unbeschränkte Öffnung der Märkte und
die makroökonomische Koordination - gibt, oder wenn es auf grundlegende
Fragen - beispielsweise auf die nach dem ausbleibenden Fortschritt in
der makroökonomischen Koordination oder auf die nach den durch die
Mitgliedsländer zu ergreifenden Maßnahmen, falls ein erhebliches
Ungleichgewicht im Umtauschsystem die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen
Seite verzerrt - keine befriedigende Antwort gibt, oder wenn schließlich
die Unsicherheit der Aussichten auf eine Verwirklichung der Zollunion
oder des gemeinsamen Marktes zunimmt, werden die Investoren, die durch
den in Aussicht gestellten erweiterten Raum angezogen werden könnten,
ihre Entscheidung hinterfragen oder in eine Wirtschaft mit entsprechend
größeren Dimensionen investieren. Dies wäre aus ihrer
Sicht das vernünftigere Verhalten. Und auch die Drittländer
werden die dem geplanten Block innewohnenden Schwächen wahrnehmen
und die Konsequenzen ziehen, indem sie beispielsweise den potenziellen,
unter den Mitgliedsländern herrschenden Zentrifugalkräften neue
Impulse verleihen werden. Auch aus ihrer Sicht wäre dies das vernünftigere
Verhalten.
Zehn Jahre Erfahrung: Fortschritte und Rückschläge in allen
Bereichen
Die regionale Wirklichkeit
Auf einer ersten Ebene, d.h. auf der Ebene der regionalen Realität,
sind die in den vergangenen zehn Jahren erzielten Fortschritte offenkundig.
Dies geben das Wachstum des wechselseitigen Handels ebenso zu erkennen
wie die in dem integrierten Raum als solchem getätigten Investitionen.
Hierbei ist es schwer zu sagen, in welchem Maße diese Fortschritte
auf den formalen Prozess und die Mechanismen des Mercosur zurückzuführen
sind bzw. in welchem Maße auf den Umstand der geographischen Nachbarschaft
von Ländern, die sich in hohem Umfang dem internationalen Handel
geöffnet haben. Die Frage, was mit dem Handel und den Investitionen
passiert wäre, wenn der Mercosur als Prozess nicht existiert hätte,
kann ebenso wenig in präziser Form beantwortet werden.
Sicher ist dagegen, dass man von einer Situation relativ niedriger Interdependenz
- gemes-sen durch verschiedene Indikatoren im Bereich des Handels und
der Direktinvestitionen, aber auch durch Indikatoren, die den Entwicklungsgrad
grenzüberschreitender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Netze
zu erkennen geben, sowie durch jene, die die Bereitschaft zu einer gemeinschaftlichen
Verteidigung der Demokratie, so wie seinerzeit zum Ausdruck gebracht angesichts
einer politischen Krise in Paraguay, erkennbar machen - zu einer Situation
umfassender Interdependenz übergegangen ist. Diese macht es nahezu
unmöglich, dass das, was in einem der Länder geschieht, keine
gravierenden Auswirkungen auf das politische und wirtschaftliche Leben
in den anderen Ländern hätte. Noch ist das Niveau wirtschaftlicher
- und auch politischer -Interdependenz nicht erreicht, das die europäischen
Länder aufwiesen, als sie im Jahre 1950 durch den Pariser Vertrag
die EGKS (Anm.d.Ü.: Europäische Gemeinschaft für Kohle
und Stahl) schufen, oder als sie im Jahre 1958 den Weg in Richtung des
Gebildes einschlugen, das heute die Europäische Union darstellt.
Aber auch das in Nordamerika im Jahre 1994, zum Zeitpunkt der Gründung
der NAFTA, existierende Interdependenzniveau ist noch mcnt erreicht.
Dennoch, sowohl die Politiker als auch die Bürger im Mercosur, und,
dies besonders, jene, die Ersparnisse in die Region investiert und eingebracht
haben, haben heute das Gefühl, im gleichen Boot zu sitzen. Das, was
in den Volkswirtschaften der jeweils anderen Länder geschieht, spiegelt
sich sogar in dem Übertragungseffekt wider, den dies auf die Wirtschaft
des jeweils einzelnen Landes hat. Dies ist in besonderem Maße der
Fall, wenn das in Schwierigkeiten befindliche Land eines der größeren
ist. Was das "Risikoland" (riesgo pais) betrifft, so darf der
Integrationsprozess der Märkte als abgeschlossen angesehen werden,
und dies auch trotz des Strebens nach Differenzierung, das jeweils in
kritischen Situationen aufkommt.
Sich auf dieser Ebene einen Rückschritt vorzustellen, d.h. einen
Rückzug auf das Niveau einer niedrigeren Stufe der Interdependenz,
ist nicht einfach. Was dagegen vorstellbar ist, sind Veränderungen
im Bereich der Interdependenz auf regionaler Ebene. Die in der eigenen
Region gemachten Erfahrungen -vor der Verkündigung des Integrations-
und Kooperationsprogramms zwischen Argentinien und Brasilien sowie dem
später erfolgten Start des Mercosur -, aber vor allem die Erfahrungen
anderer internationaler Subsysteme, wie in der Vergangenheit des europäischen
und in der Gegenwart desjenigen im Nahen Osten, verdeutlichen, dass die
Situation einer wachsenden Interdependenz innerhalb einer Gruppe von Ländern,
die sich den gleichen geographischen Raum teilen, sowohl ein überwiegend
konfliktives als auch ein überwiegend kooperatives Potenzial in sich
bergen kann. Der nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Nutzen
ist äußerst hoch, wenn eine überwiegend konfliktive Form
zugunsten einer überwiegend kooperativen Form der Interdependenz
aufgegeben wird. Dies belegt die europäische Erfahrung der letzten
fünfzig Jahre, zumal dann, wenn diese in Vergleich zu der der vorhergehenden
Jahrhunderte gesetzt wird. Auch dies kann wiederum nicht nur in Kategorien
von Handelsflüssen oder der Entwicklung gemeinsamer Projekte im Bereich
der physischen Infrastruktur gemessen werden.
Auf einer zweiten Ebene, derjenigen der strategischen Idee, lässt
sich im Verlaufe der vergangenen fünfzehn Jahre eine größere
Kontinuität und Dauerhaftigkeit der politischen Führung in der
heute als Mercosur bezeichneten Region beobachten. Dies ist vielleicht
der wesentliche Beitrag der so genannten präsidialen Diplomatie zum
Aufbau des Mercosur als Raum der Integration und der Solidarität
seiner Mitgliedsländer untereinander gewesen. Diese Beobachtung wurde
jeweils zum Zeitpunkt der Gründung in den Jahren 1986 und 1990 gemacht.
Sie wurde jedoch besonders auch in Krisensituationen gemacht, wie z.B.
zur Zeit der Krise im Automobilsektor des Jahres 1995, in den durch die
Rezension geprägten Jahren 1998 bis 1999 und selbst in jüngster
Zeit, als Argentinien sich, wie in der Vergangenheit auch Brasilien in
ähnlicher Form, zur Ergreifung von Ausnahmeschritten gezwungen sah.
Eine ausführliche Untersuchung der genannten Geschehnisse, die aus
naheliegenden Gründen den Rahmen der vorliegenden Erörterungen
sprengen würde, würde deutlich machen, dass die politische Führung
in allen Fällen einer Verfolgung der strategischen Richtung den Vorrang
vor den besonderen Umständen eines Augenblicks oder eines bestimmten
Konfliktes eingeräumt hätte. Hierbei fallen zwei entscheidende
Wesensmerkmale des präsidentiellen Führungskonzepts ins Auge:
Die aus langfristiger Sicht erfolgte Einordnung der Bewertung jeder spezifischen
Situation in den weiteren Rahmen der im regionalen und globalen Strategieplan
übereinstimmenden Interessen sowie die Anerkennung der Tatsache,
dass das "Wichtigste für das gemeinsame Vorhaben die wirtschaftliche
und politische Gesundheit (Demokratie, Wachstum und wirtschaftliche Stabilität)
der jeweils einzelnen Mitgliedsländer ist. Dies hat die politische
Führung dazu bewogen, im Falle eines von ernsthaften Schwierigkeiten
bedrohten Partnerlandes mit großer Umsicht zu agieren, d.h. die
gefundenen Kompromisse nötigenfalls flexibel zu handhaben oder das
Fortschrittstempo bei der Gestaltung des wirtschaftlichen Integrationsprozesses
anzupassen. Aber auch auf dieser Ebene der strategischen Idee lassen sich
jenseits der Übereinstimmung in allgemeinen Fragestellungen unterschiedliche
Vorstellungen der Partnerländer feststellen, was die Fragen nach
den bevorzugten Schwerpunktsetzungen sowie nach dem Verhandlungsspielraum
angeht, den die jeweils anderen Parteien zur Verfolgung ihrer jeweiligen
strategischen Interessen haben. Für bestimmte Momente hat das Gefühl
möglicher fehlender Loyalität, fehlender Alternativen oder Fehleinschätzungen
über die tatsächliche Verteilung von Kosten und Nutzen - z.B.
die ausschließliche Berücksichtigung der globalen Handelsbilanzsalden
- bei dem ein oder anderen Partnerland dazu beigetragen, das Bewusst-sein
für die Existenz einer im Grunde von allen Partnern getragenen oder,
dies zumindest, einer für alle Partner kompatiblen Strategie zu trüben.
Auf die Ebene der in den jeweiligen Partnerländern herrschenden öffentlichen
Meinung übertragen, bedeutet dies, dass als Konsequenz in der aufgeheizten
Stimmung einer Krisensituation bisweilen eher eine Kultur des Konflikts
als eine der Kooperation gefördert wird. Hierin liegt eines der Probleme,
die in Zukunft ein höheres Maß an Aufmerksamkeit erfordern,
wenn die Ursprungsidee des Mercosur gestärkt werden soll.
Die Tatsache, dass auf dem Feld der politischen Führung eine große
Kontinuität in der Unterstützung der strategischen Idee zu beobachten
ist, bedeutet indes nicht, dass im Bereich der jeweiligen nationalen Wirtschaftspolitik
stets die Konsequenzen aus den auf regionaler Ebene gefundenen Kompromissen
gezogen worden sind. Im Gegenteil, der wachsende Bedeutungsverlust der
regelmäßigen Treffen - die nicht einmal mehr als solche bezeichnet
werden können - der Wirtschaftsminister und Zentralbankpräsidenten
als impulsgebender Mechanismus des Mercosur könnte als offenkundiges
Indiz einer beträchtlichen Kluft zwischen der jeweils konkreten Wirtschaftspolitik
eines jeden Partnerlandes und der Aufbaustrategie des Mercosur angesehen
werden. Abgesehen von der Anfangsphase, in der die halbjährlich stattfindenden
Treffen der Wirtschaftsminister und Zentralbankpräsidenten tatsächlich
eine treibende Kraft darstellten, scheinen die Wirtschaftsminister in
der Folgezeit - und daran besteht kein Zweifel - Abstand davon genommen
oder möglicherweise das Interesse daran verloren zu haben, unmittelbar
beim Aufbauprozess des Mercosur zu intervenieren. Lediglich in Krisenzeiten
kam es ihrerseits zu einer Intervention. Dies kann sogar das offenkundige
Ausbleiben von Fortschritten auf dem Gebiet der Koordination makroökonomischer
Maßnahmen in der Politik, insbesondere in der Zeit nach dem Gipfel
von Ouro Preto, erklären. Aber es kann u.a. auch den fortschreitenden
Niedergang des Mercosur als formaler Prozess sowie seiner Mechanismen
erklären.
Der formale Prozess und seine Mechanismen
Auf einer dritten Ebene, der des formalen Prozesses und seiner Mechanismen,
lassen sich ein eher unbeständiger Fortschritt sowie bescheidene
Ergebnisse beobachten. Zwar gab es eine erste Phase, in der ein rascher
Fortschritt möglich schien, jedoch endete diese in einer relativen
Lähmung sowie in einer Effektivitätskrise der vertraglich vereinbarten
Mechanismen. Es ist die Phase des PICAB (Anm.d.Ü.: Programa de Integraciön
y Cooperation Econömica entre Argentina y Brasil / Programm für
Integration und Wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Argentinien und
Brasilien), die 1988 nach zwei Jahren des Funktionierens gemäß
dem Libreto ins Stocken geriet, was in hohem Maße die Folge der
politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in den beiden wichtigsten
Ländern, Argentinien und Brasilien, war. Der Großteil der im
bilateralen Integrationsvertrag von 1988 gefundenen Kompromisse erinnert
eher an die lateinamerikanische Praxis der Integration als Fiktion (integraciön-ficciön)
als an einen glaubhaften Versuch, Fortschritte auf dem Weg hin zu einem
tatsächlichen gemeinsamen Markt zu erzielen. Nach der ersten gab
es eine zweite, starke Impulse ausstrahlende Phase, deren Beginn mit der
Unterzeichnung des Vertrags von Asuncion anzusetzen ist und die sich bis
zur internationalen und regionalen Wirtschaftskrise der Jahre 1998 und
1999 hinzog. Zu verdanken ist diese Phase teilweise einem sowohl internen
als auch internationalen Klima, das derlei Initiativen in den beiden Partnerländern
mit der größeren wirtschaftlichen Ausdehnung begünstigte,
aber in hohem Maße auch dem Automatismus des Freihandelsprozesses
selbst, der schließlich auch zur Öffnung des argentinischen
und des brasilianischen Handels führte.
Im Anschluss an diese Phase begann eine dritte, deren Wurzeln vielleicht
im Konzept des Mercosur selbst liegen, in Entscheidungen, die in Ouro
Preto (beispielsweise in Fragen der nichttarifären Beschränkungen
oder des Schutzes von Rechten) ge-fasst oder auch nicht gefasst wurden,
aber auch im Ausbleiben von Fortschritten im Bereich der makroökonomischen
und sektoralen Koordination, und die sich mindestens bis zum ersten Quartal
des Jahres 2001 erstreckte. Es ist dies eine Periode, in der institutionelle
Mängel ebenso offenbar wurden wie die schlechte Qualität der
Spielregeln und die zunehmende Schwächung der wirtschaftlichen Präferenzen
sowie der Gemeinschaftsdisziplin; alles Elemente, deren Stabilität
bei dieser Art freiwilliger Integrationsprozesse souveräner Nationen
wesentlich ist.
Das Bild
Auf einer vierten Ebene schließlich, der des Bildes, das Bürger,
Investoren und Drittländer vom Mercosur haben, lässt sich eine
starke Wechselbeziehung mit der Entwicklung des Prozesses selbst und seiner
Mechanismen beobachten. In den ersten zwei Jahren des PICAB sowie in der
ersten Phase des Mercosur war dieses Bild äußerst positiv.
Im Jahre 1995, mit der Überwindung der Auswirkungen der Tequila-Krise,
wurde hier gar ein Höhepunkt erreicht. Zu verdunkeln begann sich
das Bild im Zeitraum von 1998 bis 1999, insbesondere im ersten Quartal
des Jahres 1999, als die fehlende Funktionalität des formalen Prozesses
und seiner Mechanismen mit aller Deutlichkeit offenbar wurde und sich
die Probleme zu erkennen gaben, die auf dem Gebiet des wechselseitigen
Handels sowie dem der internationalen Handelsgespräche, insbesondere
im Bereich der ALADI (Anm. d.U.: Asociacion Latinoamericana de Integraciön
/ Lateinamerikanische Vereinigung für Integration), entstanden sind.
Von dieser Zeit an wurde der Mercosur zunehmend als Teil der Probleme,
nicht aber der Lösungen wahrgenommen. Konflikte und Krisensituationen
häuften sich und das Bild eines zum Stillstand gekommenen Prozesses
begann Konturen anzunehmen; ein Bild, das bis heute fortbesteht. Man trat
in einen Teufelskreis ein, der nach deren erfolgreichem Start auch bei
der Andengruppe registriert worden war: Einen Teufelskreis aus einer weitgehenden
Unwirksamkeit der Spielregeln, die in der Wirklichkeit nicht griffen,
einer niedrigen Effizienz, da die erhofften Ergebnisse nicht erzielt wurden,
eines Verlustes an Glaubwürdigkeit, da Bürger, Investoren und
Drittländer an der Durchführbarkeit des Prozesses zu zweifeln
begannen, sowie schließlich eines Schwindens seiner Anziehungskraft.
Die von Chile geäußerten Zweifel daran, ob eine Vollmitgliedschaft
im Mercosur dem eigenen Land überhaupt dienlich sei, sowie die in
einigen Mitgliedsländern beobachteten Zentrifugalkräfte, die
sogar zur positiven Einschätzung eines möglichen Szenarios im
Sinne eines ALCA sin Mercosur" (Anm.d.Ü.: Area de Libre Comercio
de las Americas sin Mercosur / Transamerikanische Freihandelszone ohne
Mercosur) führten, sind aus der Perspektive des Attraktivitätsverlustes
eben dieses Mercosur, der das erste Quartal des Jahres 2001 prägte,
heraus zu untersuchen.
Im Mercosur dieser letzten Phase lässt sich, so scheint es, das
beginnende, obgleich bei einigen Mitgliedsländern forcierte Eindringen
des Virus der fehlenden gesellschaftlichen Legitimität beobachten,
und zwar in dem Maße, in dem Zweifel daran aufkamen, ob die Partnerschaft
getragen ist durch ein von Gewinn und Gegengewinn geprägtes Fundament
und ob es von daher ratsam ist, die laufende Entwicklung in ihrer derzeitigen
Form weiter zu führen. Die ursprüngliche Idee, so scheint es,
wurde nicht hinterfragt. Dagegen wurden die Charakteristika und die Fortschritte
des formalen Prozesses und seiner Mechanismen durchaus zunehmend in Frage
gestellt. Immer häufiger konnte man Sätze hören, die übertrieben
zu sein schienen, die indes das Gefühl zum Ausdruck brachten, der
Mercosur ist tot (zumindest als strategisches Instrument zur Durchführung
der komplexen internationalen Handelsgespräche innerhalb des ALCA)
oder in seiner jetzigen Form ist er zu nichts nutze (zumindest als strategisches
Instrument zur Anziehung von Investitionen in alle Mitgliedsländer
oder zur Inangriffnahme der Transformation im Produktionssektor unter
Beachtung der sozialen Gerechtigkeit).
In diesem Zusammenhang lässt sich sogar ein Problem des Marketing
der Realität des Mercosur ausmachen, das in dem Moment auftritt,
wenn das technisch fragwürdige Konzept der unvollkommenen Zollunion
(union aduanera imperfecta) missbraucht wird. Weder im Falle der NAFTA,
die weit davon entfernt ist, die Freihandelszone abschließend verwirklicht
zu haben, noch im Falle der Europäischen Gemeinschaft, die lange
Zeit benötigte, bevor sie ihr Ziel eines gemeinsamen Marktes oder
gar eines Einheitsmarktes gänzlich erreichte, findet sich die von
Führungsfiguren und fachkundigen Analysten verwandte Bezeichnung
unvollkommen für ihre jeweiligen Freihandelszonen, ihre Zollunion
oder ihren Einheitsmarkt. Das, was es sehr wohl gab, war eine Übergangsphase
hin zur einer Zollunion; eine Idee, die durchaus mit dem Regelwerk der
WTO im Einklang steht.
All dies erzeugt eine Situation, die sich teilweise auf den wechselseitigen
Handel auswirkt, die ihre Auswirkungen jedoch vor allem auf die Ausrichtung
der Investitionen innerhalb des erweiterten Wirtschaftsraumes hat, und
somit die Folge einer ständigen Aushöhlung des Prinzips der
Vorhersehbarkeit bei den Spielregeln zur Gestaltung unternehmerischer
Entscheidungen und Strategien darstellt. Je mehr die Zielsetzungen des
Mercosur in Zweifel gezogen werden, beispielsweise durch den Beginn einer
Debatte darüber, ob eine Rückentwicklung zu einer Freihandelszone
sinnvoll sei, ob eine Festigung der Zollunion als Vorstufe eines gemeinsamen
Marktes anzustreben sei oder ob - vorausgesetzt, dies wäre rechtlich
möglich - eine Pause auf dem Weg der Kompromisssuche eingelegt werden
solle, desto mehr würde ein Klima der Unsicherheit und der Unentschlossenheit
erzeugt, das sich unweigerlich auf die Pläne der Unternehmer sowie
auf die Ausrichtung der für den erweiterten Markt bestimmten Investitionen
auswirken würde.
Zehn Jahre nach seinem Start hat der Mercosur als regionale Realität
sowie als strategische Idee nach wie vor seine Kraft und Geltung. Jedoch
werden zunehmend Zweifel an seiner tatsächlichen Fähigkeit laut,
als Instrument zur gemeinschaftlichen Verhandlung mit Drittländern
oder als Instrument zur Anziehung von Investitionen in alle Mitgliedsländer
zu dienen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Mercosur
als Prozess mit seinen Mechanismen sowie als Bild offensichtliche Mängel
aufweist. Dennoch hat es in Integrationsprozessen dieser Art Lerneffekte
hinsichtlich der Frage gegeben, wie Fortschritte erzielt und wie sie nicht
erzielt werden können.
Soll der Stillstand des formalen Prozesses und die Eintrübung des
über den Mercosur bestehenden Bildes überwunden und soll die
Anpassung an neue internationale und interne Realitäten vorgenommen
werden, denen sich die Mitgliedsländer gegenüber sehen, so ist
jetzt ein starker politischer Impuls erforderlich. In diesem Sinne sollten
die gemachten Erfahrungen in nutzbringendes Kapital umgewandelt werden,
um zu verhindern, dass der Niedergang des Prozesses nebst seinen Mechanismen
die Qualität und Form der erzielten Interdependenz beeinträchtigt,
die sich auf jeden Fall ausweiten wird.
Drei zentrale Fragen hinsichtlich der bisherigen Erfahrungen
Drei zentrale Fragen sind es zunächst, die sich rückblickend
auf die zehnjährige Erfahrung des Mercosur stellen. Sie lauten:
Welche Lehren können im Hinblick, auf die wesentlichen Fragen nach
der Vorgehensweise bei der freiwilligen Integration souveräner Nationen
gezogen werden?
Welche Szenarien sind mit Blick auf die Zukunft des Mercosur unter besonderer
Berücksichtigung der Verhandlungen über den ALCA (Anm.d.Ü.:
Area de Libre Comercio de las Americas / Transamerikanische Freihandelszone)
sowie mit der Europäischen Union vorstellbar?
Welche Fragen können von zentraler Bedeutung für den künftigen
Aufbau eines Mercosur sein, der den Zielen aller seiner Mitgliedstaaten,
also der Konsolidierung der Demokratie und der Beschleunigung der Produktionsumwandlung
im Rahmen gesellschaftlicher Solidarität sowie der Einbringung der
eigenen Wettbewerbsfähigkeit in die Weltmärkte, dient?
Vorgehensweisen bei der Integration
In Bezug auf die erste Frage verdienen drei grundlegende Fragestellungen
nach der Vorgehensweise bei der Integration besondere Aufmerksamkeit.
Es sind die Fragestellungen, auf die sich die Reflexions- und Handlungsanstrengungen
der Hauptakteure und Fachleute konzentrieren sollten.
Die erste Fragestellung ist die nach der Effizienz, d.h. danach, wie
eine höchstmögliche Annäherung an die ursprünglich
angestrebten Ergebnisse sowie an die Zielsetzungen erfolgen kann, die
sich aus dem Aufbau einer Plattform ergeben, die einem verbesserten Wettbewerb
sowie einer verbesserten Verhandlungsführung in einer globalisierten
Welt dient, in der die nationale Identität eines jeden Mitgliedslandes
erhalten bleibt. Es ist eine Frage nach der Neudefinition der Struktur
des Prozesses sowie einiger seiner Mechanismen und Spielregeln mit dem
Ziel, dessen Effektivitätspotenzial, also dessen Verwertbarkeit in
der Wirklichkeit, zu steigern. Diese Frage steht in direktem Zusammenhang
mit der Frage danach, wie eine dynamische Konzertation der beteiligten
nationalen Interessen entwickelt werden kann, um zu erreichen, dass die
Mechanismen und Spielregeln in einem von Gewinn und Gegengewinn geprägten
Fundament verankert sind und nicht als Eigenmechanismen eines Nullsummenspiels
wahrgenommen werden.
Die zweite Frage ist die nach der Glaubwürdigkeit des Mercosur im
Bewusstsein von Investoren und Drittländern, also danach, wie ernst
der Mercosur sowohl als Prozess als auch als Gesamtheit seiner Mechanismen
durch denjenigen genommen werden kann, der Investitionsentscheidungen
trifft und unternehmerische Strategien entwirft, und der diesen Mercosur
als seriösen Gesprächspartner in den internationalen Beziehungen
sowie bei der Aufnahme internationaler Handelsgespräche bewertet.
Das kollektive Gedächtnis hinsichtlich der lateinamerikanischen Tradition
einer Integration als Fiktion" (inte-graciön-ficciön) -
d.h. eine Rhetorik, die die Wirklichkeit nicht erfasst bzw. Verpflichtungen,
die sich in Luft auflösen oder schlichtweg nicht erfüllt werden
-, wirkt sich auf die Empfindungen aus, die Bürger, Investoren und
Drittländer bei der Bewertung der Verpflichtungen des Mercosur haben,
und macht diese überaus sensibel für jedes Anzeichen einer Schwächung
der Bereitschaft, die gesteckten Ziele zu erreichen. Die Glaubwürdigkeit
wird also in hohem Maße von der Wirksamkeit der Mechanismen und
Spielregeln abhängen.
Die dritte Fragestellung ist die nach der gesellschaftlichen Legitimität,
d.h. nach der Wahrnehmung des Mercosur in der öffentlichen Meinung
eines jeden Landes. Es ist die Frage danach, wie relevant der Mercosur
ist, um auf ihre Erfordernisse, Vorhaben und Interessen zu reagieren,
d.h. auf die drängendsten Probleme der politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Agenda des jeweiligen Landes. Anders ausgedrückt, es
ist die Frage nach der tatsächlichen Aufteilung von Kosten und Nutzen
des Integrationsprozesses unter den Mitgliedsländern vor dem Hintergrund
ihrer nationalen Zielsetzungen und Interessen, und dies vor allem, wenn
man das ausgesprochene Ungleichgewicht innerhalb der bestehenden wirtschaftlichen
Dimension in Betracht zieht. Dies führt dazu, die Frage nach den
Unkosten des Mercosur, so wie dieser konzipiert und ausgestattet ist,
zu stellen und in Relation zu anderen Möglichkeiten der wirtschaftlichen
Präsentation auf internationaler Bühne oder zu anderen möglichen
Formen des wirtschaftlichen Integrationsprozesses zu setzen. In der Praxis
ist es die Frage danach, wer in der in einigen der Mitgliedsländer
mit immer stärkerer Akzentuierung geführten Debatte unterliegt,
in der es einerseits um den Mercosur als Prozess mit seinen Mechanismen
und andererseits um den ALCA bzw. um andere vorstellbare Varianten einer
speziellen und präferenziellen Beziehung zu den Vereinigten Staaten
geht. Nur in dem Maße, in dem dies in Rechnung gestellt wird, werden
die Reichweite und der Sinn dieser Debatte verständlich sein. Nur
ein Mercosur, der als Prozess und als Gesamtheit seiner Mechanismen wieder
Attraktivität gewinnt, wird nicht als Option gewertet werden, sondern
als unvermeidlicher Weg, über eine alle beteiligten nationalen Interessen
zufrieden stellende Freihandelszone auf dem amerikanischen Kontinent (ALCA)
zu verhandeln, in welcher Form diese auch immer zu verwirklichen wäre.
Von der gesellschaftlichen Legitimität werden letztlich auch die
Tragfähigkeit und die Effizienz des formalen Prozesses der wirtschaftlichen
Integration sowie seiner Mechanismen und Spielregeln abhängen.
Die gemachten Erfahrungen geben zu erkennen, dass es bei einem freiwilligen
Integrationsprozess souveräner Nationen, die keinesfalls eine Aufgabe
ihrer Souveränität beabsichtigen, politisch notwendig ist, vorrangig
Antworten auf die Fragen der Effizienz, der Glaubwürdigkeit und der
Legitimität zu geben. Dies ist nicht ohne eine Verfeinerung der Konzertationsmechanismen
zu erreichen, die es ermöglichen, in dynamischer Form die Wechselseitigkeit
der nationalen Interessen als Stützpfeiler der Partnerschaft zu bewahren
und gleichzeitig Spielregeln festzulegen, die tatsächlich befolgt
werden können. Dies bedeutet, ein gutes Maß an Rechtssicherheit
und Vorhersehbarkeit mit der ausreichenden Flexibilität zur Bewältigung
der Veränderungen bei den nationalen und internationalen Gegebenheiten
miteinander in Einklang zu bringen. Es bedeutet aber auch eine starke
politische Führung sowie die notwendige Beteiligung der Zivilgesellschaft
bei der Definition der nationalen Interessen, die im Kontext des Gemeinschaftsprojekts
betroffen sind. Es handelt sich also um einen Prozess, der ununterbrochen
in Gang gehalten werden muss durch Anregungen und Initiativen, die in
der Wirklichkeit verwurzelt sind. Die größte Verantwortung
hierbei kommt vor diesem Hintergrund den Ländern zu, die mit genügenden
Machtressourcen ausgestattet sind, um eine Führungsrolle zu übernehmen.
Sollte dies nicht gewährleistet sein, verliert ein derartiger Prozess
an Dynamik und gelangt schließlich zum Stillstand, wie die Erfahrungen
Europas und der ehemaligen Andengruppe, jede auf ihre Weise, beweisen.
Mögliche Szenarien
Was die zweite Fragestellung betrifft, so kann man von mindestens
drei Tendenzen bezüglich möglicher Zukunftsszenarien des Mercosur
ausgehen. Hierbei sind selbst Kombinationsformen dieser verschiedenen
Szenarien denkbar.
a) Die Bedeutungslosigkeit
Die erste mögliche und keineswegs unwahrscheinliche Tendenz ist
diejenige hin zu einer kontinuierlichen Erlahmung des Prozesses, seiner
Mechanismen sowie des von ihm bestehenden Bildes, also eines schrittweisen
Übergangs zu einer wachsenden Bedeutungslosigkeit, was die Agenda
sensibler Fragen aller oder einiger Mitgliedsländer betrifft. Eswäre
dies ein Szenario, das man als "aladificacion" (Anm.d.Ü.:Aladifizierung",
d.h. Umwandlung im Sinne der ALADI, Asociaciön Latinoamericana
de Integracion / Lateinamerikanische Vereinigung für Integration)
des Mercosur bezeichnen könnte: Zwar würde letzterer als Prozess
weiterbestehen, jedoch würden sich seine Verpflichtungen verflüchtigen
und in den Augen der Bürger, Investoren und Drittländer an
Effizienz verlieren, auf deren Entscheidungen und Strategien er somit
auch keine nennenswerten Auswirkungen mehr hätte. Im Falle eines
solchen Szenarios würde der Mercosur sogar noch als formaler Prozess
fortbestehen, sähe sich jedoch gemeinsam mit so vielen anderen
lateinamerikanischen Integrationserfahrungen in eine Art Museum der
Unbedeutsamkeiten verbannt. Niemand würde mehr nach ihm fragen.
Ein Szenario also, das sich auf die Zielsetzungen einer von kooperativer
Interdependenz geprägten Region funk-tionsstörend auswirken
kann, und dies nicht nur im Bereich des Mercosur selbst, sondern auch
im gesamten südamerikanischen Bereich. Die ursprüngliche strategische
Idee würde somit ein Opfer der Erosion.
b) Die Auflösung
Die zweite mögliche und ebenfalls relativ wahrscheinliche Tendenz
ist die in Richtung einer Auflösung des Mercosur im weiteren und
undifferenzier-teren Umfeld einer möglichen Integration der gesamten.
Hemisphäre in einer der Varianten des ALCA. Ein solches Szenario
könnte auch neben dem oben genannten bestehen. Es könnte das
Ergebnis eines - de facto oder de jure - umgewandelten Mercosur in eine
Art Freihandelszone sein. Der gemeinsame Außenzoll hätte
sich hierbei aufgelöst, besonders im Hinblick auf sein Hauptelement,
d.h. die Frage der Gemeinschaftsdisziplin im Bereich der Zollpolitik.
Jedes Land würde sich somit als Einzelgebilde in eine große,
die gesamte Hemisphäre umfassende Freihandelszone eingliedern.
Der Mercosur würde als Wirtschaftsregion fortbestehen. Der Prozess
mit seinen Mechanismen als solcher würde jedoch durch den Prozess
und seine Mechanismen abgelöst werden, der auf der Ebene der gesamten
Hemisphäre in Gang gebracht würde. Dieses Szenario könnte
seinerseits das Resultat der laufenden ALCA-Verhandlungen oder der Umwandlung
des ALCA in ein Netz von Freihandelsabkommen sein, dessen wirtschaftliches
Epizentrum auf Hemisphärenebene die Vereinigten Staaten wären.
Dessen derzeitige Mitglieder könnten ggf. Freihandelsabkommen mit
der Europäischen Union aushandeln, so wie es bereits Mexiko getan
hat und so wie es Chile zu tun beabsichtigt. Die Auswirkungen solcher
Verhandlungen auf die südamerikanische Interdependenz sind schwer
vorhersagbar, könnten jedoch möglicherweise denen gleichen,
die sich im Falle eines Szenarios der Bedeutungslosigkeit zeigen würden.
Auch in diesem Falle würde die ursprüngliche strategische
Idee ein Opfer der Erosion.
c) Die Konsolidierung
Die dritte mögliche und eher unwahrscheinliche Tendenz würde
jene hin zu einer Erneuerung und Festigung des Mercosur-Prozesses und
seiner Mechanismen als eines regionalen und institutionalisierten Subsystems
mit zunehmend südamerikanischer Dimension sein. Es ist das Szenario,
das seitens der Regierungen offiziell bevorzugt wird und das mit den
auf dem letzten Südamerikanischen Gipfel in Brasilia gesteckten
Zielsetzungen in positive Verbindung gebracht wird. Es wäre das
Szenario eines ernst zu nehmenden" Mercosur; eines Mercosur mit
Präferenzen, Disziplin und Spielregeln, die tatsächlich eingehalten
werden und die die Interessen aller Mitgliedsländer berücksichtigen.
In diesem Falle stünde der Mercosur als Prozess mit seinen Mechanismen
für Verpflichtungen, die über jenen anzusiedeln sind, die
gegenüber dem ALCA eingegangen würden. Er würde zudem
sein Potenzial behalten, gleichzeitig konkrete Freihandelsverhandlungen
mit der Europäischen Union zu führen. Und schließlich
würde er einen entscheidenden Beitrag zur gesellschaftlichen Legitimität
der sowohl innerhalb der Hemisphäre als auch auf transatlantischer
Ebene geführten Handelsverhandlungen leisten. Es wäre das
Szenario, das in der Tradition der ursprünglichen strategischen
Idee stünde, die zum PICAB und später zum Prozess des Mercosur
geführt hatte.
Der kommende Aufbau
In Bezug auf die dritte Fragestellung ist die Frage nach dem zu beantworten,
was in eine Agenda der Erneuerung und Konsolidierung des Mercosur ais
Prozess und als Gesamtheit seiner Mechanismen und Spielregeln sinnvollerweise
aufgenommen werden soll, wenn diese Spielregeln die Interessen eines jeden
Mitgliedslandes an der Schaffung eines regionalen Umfelds widerspiegein
sollen, das deren jeweilige Anstrengungen zur Stärkung der Demokratie,
zur wirtschaftlichen Modernisierung, zur Förderung des gesellschaftlichen
Zusammenhalts sowie zur Einbringung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit
in eine globalisierte Welt unterstützt. Es ist dies das ursprünglich
für den Mercosur gedachte Szenario und, meiner Meinung nach, immer
noch das Szenario, das aus dem Blickwinkel der nationalen Interessen der
einzelnen Mitgliedsländer heraus bevorzugt werden sollte. Schließlich
ist es auch das Szenario, das den größten Beitrag zur Entwicklung
von politischer Stabilität und Demokratie im südamerikanischen
Raum leisten kann.
Schlussfolgerungen: die Felder des bevorzugten Handlungsbedarfs für
einen möglichen und wünschenswerten Mercosur
Zehn Jahre Erfahrung werfen ein Licht auf die Frage, wie die Situation
bewältigt werden kann, in der sich der Mercosur zu Beginn des Jahres
2001 befindet, und wie dessen zukünftige Entwicklung sichergestellt
werden kann. Dieses Licht erhellt auch den Weg zum anstehenden Aufbau
des strategischen Bündnisses zwischen Argentinien und Brasilien.
Wie der uruguayische Historiker Alberto Methol Ferre) zu Recht hervorgehoben
hat, stellt der Mercosur das Resultat eben dieses Bündnisses dar,
das nach wie vor dessen Rückgrat bildet.
Die positiven Ergebnisse brauchen kaum in Erinnerung gerufen zu werden.
Sie haben ihren Niederschlag in einer Steigerung des Handels und der Investitionen
gefunden, aber auch in einem Bild des Mercosur, das zeitweise äußerst
attraktiv war. Sie haben eine regionale Wirklichkeit gegenseitiger Interdependenz
- im Positiven wie auch im Negativen - geschaffen, die kaum umkehrbar
ist, wie immer auch das künftige Schicksal des formalen Prozesses
der wirtschaftlichen Integration aussehen mag. Die vielen erzielten Erfolge
über Bord zu werfen und die strategischen Zielsetzungen zurückzuschrauben,
bedeutete einen Rückschlag für die vielen Investoren, die die
von der Regierung nach Abschluss des Vertrags von Asunciön ausgesandten
Signale ernst genommen haben, denen zufolge sie sich den Zugang zu mehr
als 200 Millionen Verbrauchern erhofft hatten. Es bedeutete darüber
hinaus eine Beeinträchtigung der von den Investoren erworbenen und
die einzelnen Mitgliedsländer formal bindenden Rechte sowie, dies
besonders, eine Beeinträchtigung der internationalen Glaubwürdigkeit
der vier Länder.
Andererseits ist es aber auch, wie bereits zuvor dargelegt, notwendig
einzugestehen, dass der Mercosur als formaler Integrationsprozess eine
Periode der Unsicherheit, ja sogar des Stillstands, durchläuft. Dies
hat zur Folge, dass das Projekt an Glaubwürdigkeit, an Attraktivität
sowie an Effizienz einbüßt. Selbst die Legitimität in
den Augen der Öffentlichkeit kann verloren gehen. Dies alles schmälert
sein Potenzial zur Anziehung von Investitionen und beeinträchtigt
seine Fähigkeit, als brauchbare Plattform zu fungieren, die dem Wettbewerb
und der Verhandlungsführung in der Welt dient. Eine derartige Situation
ist, falls sie sich verlängern sollte, niemandem der Mitgliedsländer
gelegen, erst recht nicht denen mit geringerer Wirtschaftskraft. Der Mercosur
würde in einer solchen Lage an Bedeutung verlieren und sich in den
Verpflichtungen auflösen, die dann im Rahmen des ALCA, in welcher
seiner Varianten auch immer, übernommen würden. Dies wiederum
würde zu einer Verstärkung jener Fragmentierungs-tendenzen führen,
die im regionalen südamerikanischen Raum bereits zu beobachten sind.
Vom politischen und strategischen Standpunkt aus gesehen, wird ein solches
Szenario selbst den Vereinigten Staaten nicht genehm sein, führt
man sich die wachsenden Schwierigkeiten vor Augen, die sich im Hinblick
auf die politische Stabilität einiger der südamerikanischen
Länder zeigen.
Am Vorabend komplexer Verhandlungen im ALCA sowie mit der Europäischen
Union und ggf. auch mit der WTO ist ein ernst zu nehmender" Mercosur,
mit einer gelungenen Kombination aus Flexibilität und Berechenbarkeit,
mit wenigen qualitativ hochwertigen Spielregeln und Institutionen, die
diese Verhandlungen flankieren, immer noch die beste Option, die die vier
Mitgliedsländer haben, um die anspruchsvolle Welt der Globalisierung
und der großen regionalen Blöcke, der hohen finanziellen Volatilität
und der Wettbewerbsvorteile in den Griff zu bekommen. In der richtigen
Form konzipiert, kann der Mercosur sowohl unter den Mitgliedsländern
als auch innerhalb dieser Länder einen Dis-ziplinierungseffekt hervorrufen,
der besonders die makroökonomischen Schritte in der Politik wie den
Außen- und Sektoralhandel betrifft. Ein solcher Dis-ziplimerungseffekt
war auch einer der wesentlichen Beiträge der Europäischen Union
zur Entwicklung eines von Stabilität, Demokratie und wirtschaftlicher
Modernisierung geprägten Raumes, der aus dem harten deutsch-französischen
Kern sowie, seit den siebziger Jahren, aus seiner zunächst auf die
mediterranen und später auf die osteuropäischen Länder
zielende Erweiterung hervorgegangen ist. Trotz noch bestehender protektionistischer
Restbestandteile, die der Mehrheit der industrialisierten Länder
gemeinsam sind, hat dieser Effekt entscheidend zur Handelsöffnung
sowie zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Nationalwirtschaften
beigetragen.
Mit dem Ziel, die Tendenz hin zu einer Konsolidierung des Mercosur als
formalem Prozess zu stärken und dessen Bild substanziell zu verbessern,
ist es angesichts der in den vergangenen zehn Jahren gemachten Erfahrungen
zweckmäßig, sich auf eine zügige Arbeit an vier vorrangig
zu bewertenden Aktionsfronten zu konzentrieren. Diese sollten hierbei
nicht so sehr aus dem Blickwinkel der traditionellen Kategorien von Freihandelszone,
Zollunion und gemeinsamem Markt in Angriff genommen werden. Eine gesunde,
eher unorthodoxe Sicht der Dinge würde den Weg freimachen für
die Reflexion, die Debatte, die Aktion und die notwendigen Verhandlungen.
Die Frage, um die es geht, ist die, wie ein dichtes Netz von Mechanismen
und Spielregeln gespannt werden kann, die gleichzeitig die Entwicklung
von sozialen Netzen wie auch von Produktionsketten zum verbesserten Wettbewerb
und zur verbesserten Verhandlungsführung auf globaler Bühne
ermöglichen. Die unter anderem von Manuel Castells artikulierte Idee
eines Netzwerks der Integration (integraciön-red) als Rahmen zur
Stimulierung und Förderung einer Netzarbeit aller bedeutenden gesellschaftlichen
Akteure des gemeinsamn Raumes ist die Idee, die für den Mercosur
in der derzeitigen Lage und für die Eingliederung seiner Mitgliedsländer
in der Welt die angemessenste ist. Es ist die Idee, die am ehesten der
Notwendigkeit der Mitgliedsländer des Mercosur entspricht, vielfältige
Bündnisse im Rahmen ihrer internationalen Handelsbeziehungen, die
weder ausschließlichen noch ausschließenden Charakter haben,
sondern durchaus miteinander vereinbar sind, einzufädeln.
Die Artikulierung nationaler Interessen
Die erste dieser vorranig zu bewertenden Aktionsfronten ist die der
Methoden zur Artikulation der jeweiligen nationalen Interessen vor dem
Hintergrund großer interner und internationaler Volatilität.
Dies bedeutet die Perfektionierung von Mechanismen zur Findung von Entscheidungen,
die die Interessen und Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedsländer
in die weitmöglichste Perspektive der gemeinsamen strategischen Zielsetzungen
einordnen. Dies bedeutet aber auch die Institutionalisierung der Flexibilität
der Spielregeln sowohl in Bezug auf den wechselseitigen Handel - beispielsweise
in Form der Einrichtung von Ventilen zur Vermeidung von Krisensituationen,
die innerhalb strenger Grenzen und Vorgehensweisen sowie bevorzugt im
Rahmen von Abkommen oder sektoralen Wettbewerbs- und Exportprogrammen
zu erfolgen hätte - als auch in Bezug auf die Außenhandelspolitik.
Hierbei müsste ein gemeinsamer Außenzoll, der vorübergehend
auf Sektoren- bzw. landesbezogene Sondersituationen anzuwenden wäre,
inbegriffen sein, es müssten die besonderen Umstände eines jedes
Mitgliedslandes berücksichtigt und es müsste gleichzeitig ein
vertretbares Maß an Vorhersehbarkeit für die Investoren sichergestellt
werden. Die Verhandlungen hierüber müssten aus naheliegenden
Gründen unter Berücksichtigung der möglichen Auswirkungen
auf den Handel und auf die Investitionen selbst geführt werden. Die
Interpretationsweite und die Zweideutigkeit von Artikel XXIV des GATT-Abkommens
von 1994, aber auch die Deutungsweite der in seinem Zusammenhang gemachten
konkreten Erfahrungen geben genügend Spielraum für eine gesunde,
der wirtschaftlichen Rationalität keineswegs zuwiderlaufende Handlungsfreiheit,
vor allem in der flexiblen Handhabe der Frage des gemeinsamen Außenzolls
in der Übergangszeit zu einem einheitlichen Zollgebiet. Dies würde
sogar die Eingliederung Chiles als Vollmitglied des Mercosur ermöglichen,
was dessen Glaubwürdigkeit und äußeres Erscheinungsbild
schlagartig erhöhen bzw. aufhellen würde. Während einer
im Regelwerk der WTO vorgesehenen Übergangszeit wäre die Hauptaufgabe
die Sicherstellung der kollektiven Dispizlin in der Außenzollpolitik
der jeweiligen Länder, bis zu dem Punkt, an dem der gemeinsame Außenzoll
seine Entwicklung abgeschlossen hat. Dies bedeutet, dass die eventuell
auftretenden Schwankungen im Außenzoll sich im Rahmen gemeinsamer
Regeln zu ihrem Ausgleich entwickeln sowie innerhalb automatischer Prozesse
zu ihrer Konvergenz gesteuert werden.
Vor allem bedeutet dies jedoch die Notwendigkeit zu einer großen
Reflexions- und Aktionsanstrengung in einem jeden der Mitgliedsländer
selbst im Hinblick auf dessen tatsächliche nationale Interessen betreffs
der Einbringung der eigenen "Wettbewerbsfähigkeit auf regionaler
und auf globaler Ebene. Dies schließt zudem auch die Behebung von
in einigen Fällen beobachteten offenkundigen Mängeln bei der
Art und Weise ein, wie die sektoralen und regionalen Interessen innerhalb
der einzelnen Länder selbst artikuliert werden. In dieser Fragestellung
erscheint es empfehlenswert, dass die Mitgliedsländer sich zur Institutionalisierung
der Funktionsweise ihrer jeweiligen Nationalbehörden für den
Gemeinsamen Markt (Secciones Nacionales del Grupo Mercado Comün)
verpflichten, um so zum einen eine effizientere Koordination der Regierungen
untereinander bei der Definition der nationalen Ziele innerhalb des Mercosur
zu erzielen, zum anderen aber gleichzeitig auch eine höhere Beteiligung
der Zivilgesellschaft auf den verschiedenen Artikulationsebenen. Ein solcher
Schritt würde es ermöglichen, die Gruppe der Landeskoordinatoren
des GMC (Anm.d.LJ.: Grupo Mercado Comün / Ländergruppe des Gemeinsamen
Marktes) als die Operationsachse der institutionellen Struktur zu stärken,
womit die Strukturen des COREPER (Anm.d.Ü.: Comite de los Representantes
Permanentes de los Estados Miembros de la Union Europea / AStV, Ausschuss
der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union), des eigentlichen harten Kerns der europäischen Institutionen,
nachgezeichnet würden. Dieses Kollegium könnte in seinem Aktionsbereich
eine technische Leitung einrichten, deren Mitglieder auf der Basis von
Ausschreibungen gewählt und mit zeitlich begrenzten Verträgen
ausgestattet würden. Dies würde die Aufgabe erleichtern, die
im Einvernehmen mit den Mitgliedsländern zu treffenden Entscheidungen
vom technischen Standpunkt her vorzubereiten, und zwar sowohl im Bereich
der Festigung und Vertiefung des Mercosur als auch im Bereich der Erweiterung
der Märkte im Rahmen der Außenhandelsverhandlungen. Es würde
der Netzwerkarbeit aller Regierungsbehörden einen Impuls verleihen,
in deren Kompetenzen die Fragen der gemeinsamen Interessen liegen, so
beispielsweise auf dem Gebiet der Exportförderung und der Gesundheitskontrolle,
der Steuern und Zölle, der Handelsverteidigung und des Wettbewerbs,
aber auch des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Darüber
hinaus würde es ebenfalls die Netzwerkarbeit der Dach- und Sektoralorganisationen
des Unternehmerbereichs anregen sowie andere institutionelle Artikulationseinrichtungen
der Zivilgesellschaft, des akademischen und kulturellen Lebens, der politischen
und gewerkschaftlichen Bühne sowie schließlich der Bewegungen
zum Schutz der Verbraucher sowie der Umwelt.
Der Ausbau der Mercosurpräferenz
Die zweite Aktionsfront ist die des Ausbaus der Mercosurpräferenz,
was nicht nur die Verbesserung des immer noch von unnötigen Mängeln
geplagten Freihandelsraums bedeutet, sondern auch die wirksame Ausweitung
der Präferenz auf Dienstleistungen und Käufe der Regierung.
Hierbei ist genau der Mut vonnöten, den Präsident Fernando Henrique
Cardoso forderte, als er Kanzler Celso Lafer in sein Amt einführte.
Das gesteckte Ziel sollte klar sein: die Ausdehnung des Konzepts des internen
Marktes auf alle Güter und Dienstleistungen. Die dabei zu setzenden
Fristen können und sollen realistisch sein. Jedoch müssen die
Märkte und die Bürger deutlich wissen, welches die tatsächliche
Richtung ist, in die der Mercosur steuert. Derzeit ist der Horizont noch
konturenlos und unklar. Diese Unklarheit wird noch verstärkt durch
die fehlende Transparenz bei den Spielregeln. Es ist schwer zu erkennen,
welche von ihnen tatsächlich in den jeweiligen Ländern gelten,
und selbst der Zugang zur Kenntnis der verschiedenen Abkommen und Entscheidungen,
Resolutionen und Erlasse bleibt demjenigen verwehrt, der den darauf spezialisierten
Regierungsbehörden nicht angehört. Es wäre zu wünschen,
dass allen Akteuren der Zivilgesellschaft über das Internet der problemlose
Zugang zum tatsächlichen Rahmenwerk der rechtlichen Verpflichtungen
des Mercosur offen stünde. Dies wäre eine vorrangige Aufgabe
der derzeitigen Verwaltungsbehörde, deren Sprecherbüro derzeit
lediglich die Titel der entsprechenden Verträge bekannt gibt. Die
bestehende rechtliche Verwirrung um das sogenannte Automobilabkommen (acu-erdo
automotriz) mag hier nur als ein Beispiel dienen.
Die Stärkung der kollektiven Disziplin
Die dritte Front ist die der Stärkung der kollektiven Disziplin auf
dem Gebiet der Makrowirtschaftspolitik, der Außenhandelspolitik
sowie der Verhandlungsführung mit Drittländern und mit Wirtschaftsblöcken
durch die jeweiligen Regierungen. Es kann nicht bestritten werden, dass
die bis heute auf diesem Gebiet erzielten Ergebnisse dürftig sind.
Es geht nicht darum, bereits an die Pforte des Paradieses zu gelangen.
Worum es dagegen geht, ist, ein Mindestmaß an Spielregeln aufzustellen,
die das Bemühen der Mitgliedsländer um ein gemeinsames Vorgehen
in den Augen von Investoren und Drittländern glaubhaft erscheinen
lassen. Es ist nötig, diese durch Taten zu überzeugen, d.h.
davon, dass die vier Partnerländer, und insbesondere Argentinien
und Brasilien, in der Tat bereit sind, die faktische Notwendigkeit eines
Mindestmaßes an kollektiver Disziplin anzuerkennen, die ihrem natürlichen
Hang zur Ergreifung unilateraler Maßnahmen jenseits der beschlossenen
Kompromisse Schranken setzen, und die selbst zu einer tatsächlichen
Beschränkung des versprochenen unbeschränkten Zugangs zu ihren
jeweiligen Märkten oder zu einer künstlichen Verzerrung der
relativen Wettbewerbsbedingungen in dem integrierten Wirtschaftsraum führen
könnten. Es handelt sich also um ein Projekt, dessen Tragfähigkeit
auf einer außergewöhnlichen Anstrengung - größer
noch als die bis zum jetzigen Zeitpunkt unternommenen - zur Festlegung
der Produktionsstrukturen beruht, und dies besonders in den für alle
Mitgliedsländer höchst empfindlichen Bereichen. Die Idee der
Integration von Produktionsketten im Umfeld von Wettbewerbsforen und sektoralen
Exportprogrammen verdient heute die vorrangige Aufmerksamkeit von Regierungen
und Unternehmern. Letzteren einen erneuerten FONPLATA (Anm.d.Ü.:Fondo
Financiero para el Desarrollo de la Cuenca del Rio Plata / Finanzfonds
zur Entwicklung des Rio Plata-Beckens) an die Hand zu geben, der auf den
Erfahrungen des Europäischen Investitionsfonds beruht, könnte
ein bedeutender Schritt in Richtung einer breiteren Beteiligung der kleinen
und mittleren Unternehmen an der Regionalintegration, aber auch in Richtung
ihres Engagements in regional operierenden Netzwerken sein, deren Ziel
der Wettbewerb auf Weltebene ist. Dies wäre eine Antwort auf die
zentrale Idee des Südamerikanischen Gipfels von Brasilia, Netzwerke
der physischen Integration, des Transports, der Logistik und der Verteilungsketten,
aber auch der Energie sowie der Telekommunikationssysteme zu bilden, deren
Mittelpunkt mächtige, als Rückgrat fungierende Integrationsachsen
sind.
Das Vorgehen bei Handelskonflikten
Die vierte Front schließlich ist die des Vorgehens bei natürlichen
Handelskonflikten. Hierbei sind keine komplexen institutionellen Strukturen
erforderlich, sondern die volle Anwendung der derzeitigen Regierungsmechanismen,
wobei besonders die tatsächliche Funktion der Handelskommission und
der Gruppe des Gemeinsamen Marktes zu stärken wäre. Dies bedeutet
die Entwicklung der nationalen Verwaltungsmechanismen für die den
Mercosur betreffenden Handelsfragen. Es bedeutet darüber hinaus,
die bestehenden Konfliktlösungsmechanismen (Protokolle von Brasilia
und Ouro Preto) zu vervollkommnen, wobei eine Reihe einfacher Regeln (unabhängige
Expertengruppen auf Handelskommissionsebene, transparente und unveränderliche
Listen von Experten und Schiedspersonen, gemischte Auswahl von Schiedspersonen)
konkret umgesetzt werden müsste und jedes Land die Vorstellung eines
an wenigen, jedoch tatsächlich zu erfüllenden Regeln orientierten
Prozesses (rule-oriented process) zu übernehmen hätte. Die Schaffung
einer Reihe gemeinsamer Dienststellen beispielsweise im Bereich des Wettbewerbs-
und Handelsschutzes, deren Mitarbeiter vertraglich gebundene Fachleute
wären, würde ebenfalls zur Verbesserung der institutionellen
Struktur des Mercosur beitragen.
Schlussfolgerungen
Als Schlussfolgerung darf festgehalten werden, dass im Rahmen der ursprünglichen
strategischen Idee keines der derzeit bestehenden Probleme innerhalb des
Mercosur als formalem Integrationsprozess nicht auf vernünftige Weise
zu lösen wäre. Dies ist zumal in dem Maße der Fall, in
dem der Wille zu Verhandlungen besteht, zum wirklichen Aufbau eines gemeinsamen
Raumes und zur Bewahrung der Wechselseitigkeit der Interessen, der einzigen
Form, die die partnerschaftliche Bindung der Länder sowie deren gesellschaftliche
Legitimität zu tragen vermag.
Hierzu bedarf es indes einer starken kollektiven politischen Führung,
organisatorischer Vorstellungskraft sowie der kreativen Teilnahme der
Zivilgesellschaft. Außer Zweifel steht dagegen, dass ein Mercosur
ohne Impulse und Initiativen in Zeiten heftiger Turbulenzen - dem Prinzip
des Autopilots vergleichbar - zu nichts taugt. Mehr noch, er kann nur
allzu leicht auseinander brechen.
Ein gefestigter Mercosur steht keineswegs im Widerspruch zur Idee des
ALCA. Im Gegenteil, er kann die notwendige Voraussetzung für den
Erfolg echter, die gesamte Hemisphäre umspannender Verhandlungen
und, dies vor allem, für dessen gesellschaftliche Legitimität
in den Mitgliedsländern sein. Ohne den Mercosur würde die Idee
des Freihandels im Bereich der Hemisphäre weit eher Gegenstand einer
ernsthaften Infragestellung durch die Gesellschaft selbst sein.
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